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Der Seh-Weg
Charlotte Herzog von Berg ist eine Reisende aus Passion und die Auseinandersetzung mit den visuellen
Strukturen fremder Völker ein elementares Bedürfnis und ein sich stetig erneuernder
Antrieb für ihre Arbeit. Dennoch ist ihre Malerei weder anekdotisch noch folkloristisch,
sondern von einer sehr eigenen Art, die die Reiseerlebnisse systematisch
und mit Freude am Entdecken und Erforschen auswertet, sich Elemente und Strukturen,
Muster und Ornamente der fremden Kulturen aneignet und durch die Verwendung
alt-meisterlicher Techniken zu einem höchst europäischen Kunststück
entwickelt.
Charlotte Herzogs Malerei ist von überaus seltsamer und eigenständiger
Peinture, dass sich Vergleiche mit anderen Kollegen zeitgenössischer oder historischer
Stilepochen von vorneherein verbieten.
Im Folgenden will ich einige ihrer neueren Arbeiten betrachten, um herauszufinden,
worin sich die Besonderheit von Herzogs Malerei ausdrückt.
Jedes Bild zeigt mehrere, deutlich unterscheidbare Zonen, die visuell unterschiedlichen
Bildebenen zugeordnet sind. Diese verschiedenen Bildebenen haben verschieden
große Anteile an der Bildfläche und beeinflussen Erscheinung, Stimmung
und Aussage des Bildes, je nach dem Verhältnis der Anteile zueinander. Obgleich
die Strukturen der Bilder einem sich wiederholenden strukturbildenden Kanon unterworfen zu sein scheinen, ermöglicht die Variation der Grundstruktur eine
scheinbar unbegrenzte Vielzahl an Ausdrucksmöglichkeiten. Die den Bildern zugrunde liegende Struktur umfasst wenigstens drei Ebenen, die ich als
die Erzählebene, die Erlebnisebene und die Symbolebene bezeichnen möchte. Diesen
drei Ebenen entsprechen im Bild bestimmte Flächen, die vom Betrachter aus tatsächlich
in deutlich unterscheidbaren Tiefenzonen angeordnet sind und er nimmt sie als verschieden
weit "vorne" oder "hinten" im Bild liegend wahr. Dabei entspricht die Tiefenstaffelung
der Bildebenen, die im Bild als "vorne" oder "hinten" gesehen wird nicht
der Reihenfolge, in der die Farbschichten während des Malvorgangs entwickelt werden.
Vielmehr besteht eine unterschiedliche Zeitstruktur, zwischen dem, was zuerst und
zuletzt gemalt worden ist und dem, was zuerst (also als vorn liegend) und zuletzt
(also als "dahinter" liegend) wahrgenommen wird. Schon in dieser grundlegenden
Spannungssituation scheint ein wesentliches Merkmal für den eigentümlichen Charakter
der Bilder zu liegen.
Das zentrale Blickfeld des Bildes wird von der Erzählebene eingenommen. Hierbei handelt
es sich um eine die Bildmitte bedeckende, einfarbige Fläche, deren Grenzen von
scharfen Konturen gebildet werden, die diese monochrome Fläche vom Umfeld her
ausgrenzen. Die Farbe dieser mittleren Fläche wird sehr wässerig auf die liegende Leinwand
aufgetragen und durch Hin- und Herbewegen entsteht eine Fläche, die von Farbe
in unterschiedlicher Dichte belegt ist und ihr eine wolkig schwimmende Form verleiht.
Die Begrenzungslinie gibt der Fläche dann eine beschreibbare und identifizierbare
Form, etwa ein Berg, ein Gebirge, ein Tempel oder ein anderes Gebäude, wobei ein
bestimmter Berg oder Tempel gemeint sein kann, dessen charakteristische Silhouette
dem Bild den Namen gibt (etwa "Monument Valley") oder auch eine mehr allgemeine
Erinnerung formuliert (etwa "Tibetisches Tagebuch", "Im Herzen Indiens"
oder "Poetisches China").
Diese zentrale Bildfläche weist mehrere charakteristische Merkmale auf: neben der
schon erwähnten Monochromie, zeigt sie eine merkwürdige Ambivalenz im Bildgeschehen;
sie drängt sich durch ihre intensive Farbigkeit optisch in den Vordergrund
(obwohl sie im Verhältnis zu den anderen Bildebenen eher im Mittelgrund liegt und
von der zeitlichen Abfolge her die zuerst gemalte Fläche ist). Trotz ihrer visuellen
Energie und Intensität hat sie eine spezifische Vagheit durch die Flüssigkeit und
Transparenz der aufgetragenen Farbe. Gleichzeitig bedeckt sie nicht nur den Mittelgrund
des Bildes, sondern verdeckt auch zum guten Teil die dahinterliegende nächste
Ebene ("Erlebnisebene"), in der Regel eine Landschaft oder eine Ahnung davon.
Hierdurch erhält jedes Bild sein besonderes Geheimnis und bildet eine stetige Herausforderung
an die Fantasie und Erlebnisfähigkeit des Betrachters. Deshalb unterscheide
ich bei der Bildbetrachtung auch zwischen Erzähl- und Erlebnisebene. In
der monochromen Fläche manifestiert sich ein spezifischer Eindruck der Künstlerin
als Stimmung und sie versucht diesen Eindruck durch eine besondere Farbe zu formulieren
(zu "erzählen").
Die "Erlebnisebene" ereignet sich im Umfeld des zentralen Objektes der Erzählebene
und ist in der Regel in sehr akribischem, fast detailversessenen Realismus gehalten.
Hier erhält der Betrachter "Informationen", die ihm Hinweise geben, auf welche
Art und Weise er sich dem zentralen Objekt nähern kann. Das Auge wandert also
erst um die kargen Grasbüschel des "Monument Valley" und durchmisst die trockene
Weite der amerikanischen Wüste, obwohl sich die atemberaubende Monumentalität
des großen Felsens mit deutlicher Präsenz ins Blickfeld schiebt und daran erinnert,
dass seine besondere Großartigkeit durch viele Marlboro-Reklamen und zahlreiche
Wildwest-Filme in den vergangenen Jugendtagen zu einer amerikanischen
Chiffre geworden ist. Gerade an diesem Bild ist zu spüren, dass die Künstlerin auf
ihren Reisen die Bilder jenseits des Klischees findet.
Neben der Erzähl- und der Erlebnisebene ist in Herzogs Bildern noch ein dritter
Aspekt bestimmend, den ich die "Symbolebene" nennen will. Damit werden die
Randzonen und Rahmenflächen beschrieben, die in der Regel ornamentale Muster
und Strukturen, aber auch Schriftzeichen, Symbole oder Tierdarstellungen aufweisen.
Manchmal werden auch durch collagierte Papierfetzen, Blätter aus Büchern mit
Textauszügen oder Stoffapplikationen Ergänzungen beigefügt, die der Malerei eine
weitere Tiefenschicht erschließen und mit der Erscheinung von realistisch gemalten
oder aufgeklebten Teilen spielen und es lieben, das Auge des Betrachters ebenso
zu verwirren wie zu ergötzen.
In dem Bild "Poetisches China I" (1991) lassen sich die oben beschriebenen drei Ebenen
deutlich voneinander unterscheiden, wobei sich gleichzeitig durch die Verwendung
der Collage-Technik im Bereich der Randzonen neue malerische Erlebnisebenen
entwickeln und sich die Wahrnehmungen vielfältig aufsplittern.
Die Deutung der Symbole in den Randzonen ist nicht immer ganz einfach, zumal die
Künstlerin gelegentlich persönliche Gedanken, die mit bestimmten individuellen Erlebnissen
zu tun haben, in solche visuellen Reisesymbole kleidet. Manchmal jedoch ist
ihr Sinn auch leicht erkennbar, wie zum Beispiel im Bild "Monument Valley": Natürlich
verbergen sich die vier Elemente in den Flächen der Randzone und es ist unschwer
zu erkennen, daß die roten Flammen im untersten Segment für "Feuer" stehen, die
Muschel für "Wasser", die Federn für "Luft" und der Baum für "Erde".
Gelegentlich entwickeln die Bildbänder in den Randzonen scheinbar ein eigenständiges
Leben und bilden eine eigene Bildergeschichte. So finden wir im ,,Tibetischen
Tagebuch" (1988) verschiedene Formen von Mandalas, Landschaftsbilder und
Landschaftspläne, diverse Ornamentbänder und am oberen Bildrand eine Serie von
vier Bildfeldern, die offensichtlich - einer Fotosequenz gleich - die Bilder eines Fluges
über das "Dach der Welt" minutiös festhalten. Der spielerischen Leichtigkeit der
äußeren Bildbänder steht der Kontrast des schwer-opaken, lehmfarbenen Tempelbaus
und der luziden weißgemischten Hellbläue des Himmels gegenüber, in dessen
transparenten Farbwolken die Wimpelketten lustig flattern.
Wer sich mit den Bildern von Charlotte Herzog beschäftigt, muss feststellen, dass man
sich ihnen buchstäblich nur schrittweise nähern kann - es gibt mehrere Stufen des
Sehens, auf denen man sich dem Gehalt des Bildes nähern kann. Wer keine Lust
hat, Rätsel zu lösen, wen Unbestimmtes und Unbekanntes nicht anregt, mag sich
mit den identifizierbaren Anteilen zufrieden geben und kann darin durchaus reichlich
Denkstoff finden.
Wer sich mit fremden Kulturen beschäftigt hat, mag Freude daran finden, Elemente
und Symbole, Erinnerungen und Erlebnisbilder eigener Reisen wiederzufinden; der
Kenner mag entdecken, dass die Elemente und Symbole durchaus nicht immer im
geisteswissenschaftlich-korrekten Kontext vorkommen. Aber Charlotte Herzog ist
ja auch Malerin und keine Wissenschaftlerin, die die Authentizität und Individualität
einer fremden Kultur darstellt, sondern unsere Welt kreuz und quer durchstreift auf
der Suche nach dem allen Menschen unterschiedlicher Herkunft und kultureller
Zusammenhänge Gemeinsamen.
Und die dabei immer wieder entdeckt, dass bestimmte visuelle Symbole in weit voneinander
entfernt liegenden Regionen und Kulturen auftauchen können; dass sie aus
unterschiedlichen historischen Epochen stammen können, dass sie aus Tradition
weitergetragen werden oder aus anderen Gegenden auf Handelsstraßen ihren Fortgang
finden. So spannen die Bilder Charlotte Herzogs ein Netz von Seh-Wegen rund
um die Welt und wer ihnen folgen mag, wird sein Vergnügen darauf finden oder seine
Erbauung.
Nur gleichgültig kann kein Betrachter vor ihnen stehen.
Berlin, den 20. Mai 1992 Brigitte Hammer
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